75 Jahre VHS Winnenden - Teil 6 der Artikelserie


Die VHS Winnenden in den 1960er und 1970er Jahren

Die 60/70er Jahre in der BRD - Stichworte
Man(n) arbeitet 45 Stunden. Waschmaschine, Staubsauger, Wäschetrockner und Küchenmaschine erleichtern der Hausfrau die Arbeit. Die Pille wurde 1960 in Deutschland eingeführt. Fernseher zieren die Wohnzimmer, seit 1962 machen nun zwei Programme der VHS Konkurrenz, von 1967 an sogar in Farbe.
Mauerbau, Kuba Krise, Sechs-Tage Krieg, die erste Herztransplantation, Mondlandung und die Ermordung Kennedys halten die Welt in Atem. 1973 treten Dänemark, das Vereinigte Königreich und Irland der EWG bei. Die Deutschen der BRD bewegen die Spiegelaffäre und der Rücktritt Konrad Adenauers, dem Ludwig Erhardt 1963 als Bundeskanzler folgt. 1966 kommt es zur ersten großen Koalition unter Kiesinger. Die „68er-Bewegung“ nimmt in der BRD als studentische APO Fahrt auf. Notstandsgesetze, Nutzung der Atomenergie, Umweltschutz sind Themen der Zeit. Der Terror der RAF erreicht 1977seinen Höhepunkt. 
Beat, Rock und Pop erobern den deutschen Schlagermarkt. Der Auftritt der Beatles und das Musical „Hair“ erregen Aufsehen. Der Aufklärungsfilm „Helga“, gedreht im Auftrag des Gesundheitsministeriums, und die Filme von Oswald Kolle werden gesehen. Man spricht über Sexwelle und Pillenknick. Knall- und Pastelltöne, grafische Muster und psychedelische Prints, Minirock und Hotpants, Schlaghose, Plateausohlen, Riesensonnenbrille und Löwenmähne sind sicher auch auf der Winnender Marktstraße zu sehen. Und Damen, die Hosen oder Hosenanzüge tragen, werden Ende der 70er Jahre wohl auch in Winnenden akzeptiert. 

Spurensuche 
von Christel Ludwig (Leiterin der VHS 1985 -2010)

Städtische Weitsicht – VHS-Leitung wird hauptamtlich
Der langjährige Geschäftsführer Hermann Lampl kündigte 1964 aus gesundheitlichen Gründen. Hermann Schwab schreibt: „Dem Vorstand war klar, daß bei dem vorhandenen Arbeitsumfang der VHS, die auch noch den Filmclub  und die Theatergemeinschaft der Landesbühne betreute, mit einem nur teilweise beschäftigten Geschäftsführer auf Dauer nicht auszukommen sei.“ Der Gemeinderat beschloss, einen hauptamtlichen Geschäftsführer für die VHS (80%) und die Stadtbücherei (20%) bei der Stadt anzustellen. Am 21.7.1964 wurde Hans Janouschek gewählt, sein „Büro“ erhielt er in der Ringstr. 92 im Büchereiraum. 1966 genehmigte der Gemeinderat die Anstellung einer Schreibkraft für VHS und Bücherei. Edeltraud Schall wurde ebenfalls von der Stadt angestellt. Im Sommer 1965 schieden die langjährigen Vorstandsmitglieder Lampl und Schwedhelm aus. Ihnen folgten Rektor Dieter Pflüger und Realschullehrer Friedrich Weinmann nach. Weinmann verließ 1973 Winnenden, Studiendirektor Ingo Lauer nahm seine Stelle im Vorstand der VHS ein.

Bildungshunger weicht Bildungsappetit
Sieht man die VHS Angebote aus den 60er und beginnenden 70er Jahren, scheint es, als sei der Bildungs- und Orientierungshunger der ersten Nachkriegsjahre gestillt. Man gönnt sich etwas und ist der Geselligkeit mit Bildungshintergrund zugetan. 
In den Bereichen Politik gibt es kaum noch Kursangebote, Vorträge werden nur sporadisch angeboten. Die Ausspracheabende „Politik des Monats“ mit Gerhart Binder enden nach sieben Jahren 1964. Angebote in Literatur, Kunstgeschichte, Musik reduzieren sich Mitte der 60er Jahre drastisch. Erst mit Beginn der 80er Jahre beginnt eine Erholung. Gut angenommen werden das Landesbühnenangebot (ehemals Theatergemeinde) und Aufführungen des „Theater der Dichtung Gerhard Klocke“. 
Filme über exotische Länder standen oft auf dem Matinée-Programm des Filmclubs. Spannende Dia-Vorträge mit spektakulären Bildern über Reisen in ferne Länder waren bis in die 80er beliebt. Sie regten nicht nur die Reiselust, sondern auch zum Umgang mit der Kamera und dem Fotografieren an, wie VHS Kursangebote zeigen. Die Geschichte Württembergs vermittelte über Semester hin in Vorträgen und Studienfahrten Studiendirektor Erwin Hofmann. „Der Stoppe“ musste eine Fangemeinde haben. 
Der Bereich Naturkunde/Naturwissenschaft wuchs. Es gab Kooperationen mit dem „Bund für Vogelschutz“ und dem „Albverein“. Vogelkundliche Wanderungen und Pilzführungen waren ebenso gefragt wie Weinseminare von Peter Friedrichssohn. 1970 bewegt Däniken mit seinem Bestseller „Erinnerungen an die Zukunft“ die Menschen. Und auch in Winnenden spürt man Rätseln alter Kulturen und Himmelserscheinungen nach. Man taucht in die Welt der Atome ein und besucht das Kernforschungszentrum in Karlsruhe und den Kernreaktor der TH Stuttgart. 
Mit „Französisch für Frankreichreisende“ mit Henri Page ist 1961 (seit 1952) wieder ein Sprachkurs über mehrere Semester ausgeschrieben. Der Bereich wächst. 1979 gibt es immerhin zwölf Englisch-, sieben Französisch-, zwei Italienisch-und zwei Spanisch-Kurse. 

Auf der Osterfahrt 1978 in die Partnerstadt Albertville staunte mancher „sprachlose“ Stadtrat, so wurde mir berichtet, wie seine VHS geschulte Begleiterin munter mit den Gastgebern parlierte.

„Freizeit“ – ein neuer Fachbereich
Eigentlich ging es um kreatives Gestalten und künstlerisches Arbeiten. Politisch hat die anfängliche Betitelung „Freizeit“ den Volkshochschulen viel Unbill eingebracht.  
Hermann Abelein bietet von 1962 kunsthandwerkliche Kurse an: Formen in Ton, Rundflechten mit Peddigrohr, (Weihnachts-)Schmuck aus Stroh und Metallfolien, Modischer Schmuck aus Silber- oder Kupferdraht und Holzperlen, Blumenbank oder –hocker mit Glasmosaiksteinchen, Werken mit Metall. 
Margot Issa ist von 1963 bis 1972 im Bereich Malen und Zeichnen engagiert. Von 1973 bis 1987 finden wir Arne Leihberg im Programm und 1978 gibt Renate Mildner-Müller ihren ersten Kurs in Leutenbach. Sie ist heute noch im Programm vertreten. 
Und außerdem: Gartenkeramik, Wandbilder in Ton, Werkkurs über den Umgang mit dem AEG- Heimwerkersystem (72), Blumenstecken, Ikebana, Schachspiel,.
Seit 1973 gibt es Koch- und Nähkurse. 1977 richtet die VHS auf Wunsch der Elternvertreter der Gymnasien Kurse Handarbeiten, Nähen und Kochen für Schüler der Klassen 6 und 7 sowie einen Kurs in Handarbeit und Nähmaschinennähen aus. 

Und ja – es gab sie auch in Winnenden „Makramee-Kurse“!!! Immer wenn es um Zuschussforderungen der Volkshochschulen, insbesondere an das Land ging, mussten sie sich anhören, dass „Freizeitangebote für gelangweilte Hausfrauen“, Synonym Makramee-Kurse, nicht öffentlich gefördert werden müssten. Baden-Württemberg war bis weit in die 2000er Jahre Schlusslicht unter den Ländern in der Bezuschussung der Volkshochschulen. Den Löwenanteil der Kosten trugen die Kommunen und die Teilnehmenden. 

Schauen wir weiter, welche Spuren des Zeitgeistes der 60/70er Jahre im Programm der VHS hinterlassen sind.
 „Mensch und Arbeit“ ist eine Arbeitsgemeinschaft, die sich von 1958 bis 1963 mindestens an drei Abenden im Semester trifft. Themen sind u.a.: Die Frau im Berufsleben, Freizeit, die ich meine - Der Mensch ist keine Maschine, Im Betrieb Mensch bleiben, Soll Mutter verdienen gehen?, Ist unsere Jugend anders als wir?, Jugend im Spiegelbild von Wirtschaft und Gesellschaft. Das letzte Thema der Reihe 1963: „Als ich so alt war wie du…! Die Generationenfrage im Betrieb.
Erstaunlich viele Angebote beschäftigen sich mit gutem Benehmen. Angebote zur Aufklärung sind gefragt: „Erziehungsfragen mit Herz und Verstand: Sexualfragen“. Die VHS kooperiert mit Elternbeirat und CVJM.
Ende der 60er Jahre hatten Eltern wohl andere Sorgen, da hieß es dann: „Vater lernt Mengenlehre“! Ein Hilferuf! Wolfgang Walz gibt mehrere Semester Hilfestellung. Christel Koksch hält einen Kurs zur neuen Mathematik in der Grundschule. Ein Vorbereitungslehrgang zum Hauptschulabschluss wird angeboten.

„VHS Reparaturkiste der Nation!“
Das 1966 erschienene Buch von Georg Picht „Die deutsche Bildungskatastrophe“ löst hohe Wellen aus, die auch die Volkshochschulen erreichen. Förderkurse vor allem in Mathematik und Physik sowohl als berufliche Weiterbildung wie auch als Förderunterricht für Realschüler und Gymnasiasten werden angeboten. Die Namen Günther Härterich, Siegfried Künzel, Hans-Detlev Ruprecht und Volker Schweickhardt tauchen zum ersten Mal im VHS Programm auf. 
„Funkkolleg“ ist eine Antwort der öffentlichen Rundfunkanstalten auf die Forderung nach Bildung für alle. Die Volkshochschulen bieten „Begleitzirkel“ an, die über Jahre hin ein fester Bestandteil des Angebotes sind. 

Abschied und Neubeginn
 „Tatkraft, Geschick, Ideenreichtum – nur drei Charaktermerkmale von vielen, die kein Lobredner zu betonen vergaß beim Abschied eines Mannes, der über 16 Jahre lang die Geschicke der VHS Winnenden geleitet […] hat.“ konnte man am 9. März 1981 in der Winnender Zeitung lesen. Hans Janouschek ging in den Ruhestand, „die Unterrichtseinheiten der VHS hatten sich in seiner Amtszeit verzwölffacht“, so Hermann Schwab in seiner Dankesrede. Auch die langjährige Sekretärin Edeltraud Schall wurde von Alt-OB Schwab aus der VHS mit herzlichen Dankensworten verabschiedet, der Bücherei blieb „ihre Frohnatur zum Glück als Halbtagskraft erhalten. 
Im Jahr 1980 folgten die Stadt Winnenden sowie die Gemeinden Leutenbach und Schwaikheim der Bitte, Mitglied im Verein VHS e.V. zu werden. Eine neue Satzung wurde am 3. Oktober 1980 verabschiedet, in der ihnen das Recht eingeräumt wurde, je nach Einwohnerzahl Vertreter in die Mitgliederversammlung zu entsenden, der Stadt Winnenden wurde ein Sitz im Vorstadt vorbehalten, den Paul Hug, 1. Bürgermeister, in Vertretung des OB einnahm. Der Vorstand wurde in der Sitzung wiedergewählt. Er bestand nun aus Alt-OB Hermann Schwab, Rektor Dieter Pflüger, Studiendirektor Ingo Lauer und Paul Hug.
„Als im März 1981 Herr Janouschek nach 16jähriger Tätigkeit in den Ruhestand trat, war bis April 1982 Herr Hans-Joachim Löher, dann bis September 1985 Herr Heiner Gelhausen als Geschäftsführer tätig. Beide Herren haben sich mit Erfolg bemüht, die Entwicklung der VHS voranzutreiben. Sie schieden jeweils auf eigenen Wunsch aus. Nun steht seit 1. Oktober 1985 Frau Christel Spitzenberger an der Spitze der Geschäftsstelle.“, so schreibt Hermann Schwab in seinen Erinnerungen über eine für den Vorstand bewegte Zeit. 

Bild: Verabschiedung von VHS-Leiter Hans Janouschek durch Hermann Schwab 1981, Foto O. Kober


Zurück